Ein neuer Spielplatz für Seveso

Im Juli 1976 ereignete sich im italienischen Ort Seveso einer der folgenschwersten Chemieunfälle Europas. Wie sieht es heute dort aus und wie geht es den damals Betroffenen?
Es ist nichts los auf dem Spielplatz im norditalienischen Seveso. Die Sonne scheint, aber kein Kind klettert auf die Rutsche, keins versteckt sich in dem Holzhäuschen mit dem Fliegenpilzdach. Vielleicht liegt es an der Mittagszeit oder daran, dass Sonntag ist und viele Familien noch gemeinsam am Esstisch sitzen. Der Spielplatz jedenfalls sieht einladend aus. Eröffnet erst im vergangenen August, befindet er sich in einem weitläufigen Park, dem Bosco delle Querce (Foto S. 27). Am Eingang zum Spielplatz steht ein Schild mit dem Namen jenes Mannes, dem die neue Anlage gewidmet ist: Carlo Galante (1924 – 2004), früher Mitarbeiter der Chemiefabrik Icmesa, einer ehemaligen Tochter des Schweizer Unternehmens Givaudan, das wiederum zur Roche-Gruppe gehört.

Bahnhof des norditalienischen Städtchens Seveso: Dass hier vor fast 50 Jahren mehrere Kilogramm Dioxin aus der Chemiefabrik Icmesa entwichen – mit Folgen für Menschen und Umwelt –, ist heute auf den ersten Blick nicht mehr zu sehen. Foto: Uta Neubauer

Der Park Bosco delle Querce mit einem Spielplatz liegt heute im italienischen Seveso in der Zone, die im Jahr 1976 am stärksten vom Chemieunfall betroffen war. Eine Infotafel erinnert an Carlo Galante, der damals den Austritt der Dioxinwolke aus der Fabrik Icmesa stoppte.
Foto: Uta Neubauer
Galante hatte Dienst, als sich bei Icmesa am 10. Juli 1976 ein Reaktor überhitzte, der Trichlorphenol produzierte. Eine Kombination aus menschlichem Fehlverhalten und mangelnden Sicherheitsvorkehrungen führte dazu, dass giftige Dämpfe mit 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD) in die Umgebung entwichen. Die freigesetzte Menge wird auf wenige Kilogramm TCDD geschätzt. Seit dem Unfall wird die Substanz, die als schädlichster Vertreter der Dioxine gilt, Seveso-Gift genannt. Icmesa befand sich zwar im Nachbarort Meda, aber der Wind trieb die Dämpfe in andere Gemeinden, vor allem nach Seveso.
Bei der Einweihung des Spielplatzes lobte Allessia Borroni, Sevesos Bürgermeisterin, Carlo Galantes heldenhaftes Verhalten. Denn – so steht es auf dem Schild – nur durch eine Maske geschützt betrat er am 10. Juli 1976 den Reaktorraum, aus dem seit einer halben Stunde TCDD austrat, und öffnete dessen Kühlventil. So stoppte er das Entweichen der Giftwolke. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits ein Gebiet von 18 Quadratkilometern erfasst.
Tote Tiere und kranke Kinder
Icmesas Chemiker befürchteten sofort nach dem Unglück, dass Dioxine freigesetzt wurden. Umweltproben, untersucht in den Laboren Roches, bestätigten die Vermutung Tage später. Trotzdem versuchte die Roche-Führung, den Unfall kleinzureden. Sie warnte die Bevölkerung davor, Obst und Gemüse aus dem Umkreis zu verzehren, ließ sie aber im Unklaren über die Gründe. Der Dioxinaustritt wurde verschwiegen. Die Produktion in anderen Anlagen der Fabrik lief noch eine Woche weiter, als wäre nichts geschehen.
Die Folgen waren jedoch offensichtlich: Katzen, Kaninchen, Hühner und andere Kleintiere verendeten in und um Seveso schon einen Tag nach dem Unfall. Über 3300 Tierkadaver wurden bis zum 26. Juli 1976 gezählt – gut zwei Wochen nach dem Austritt des Gifts. Der Mais auf den Feldern ging ein, Pflanzen in Gärten und am Straßenrand verdorrten ebenfalls, Bäume verloren ihre Blätter.
Menschliche Todesopfer unmittelbar nach dem Unfall gab es nicht. Allerdings brach in der Bevölkerung, vor allem bei Kindern, Chlorakne aus, eine schwere Hauterkrankung mit Pusteln und Zysten. Insgesamt sind rund 200 Fälle bekannt. Die ersten kleinen Erkrankten mit Hautschäden kamen sechs Tage nach dem Unfall in die Klinik.
Diese Umstände zwangen Roche schließlich, den Dioxinaustritt zuzugeben. Das verseuchte Gebiet wurde je nach Belastung in drei Gefahrenzonen eingeteilt. Am 26. Juli 1976, über zwei Wochen nach Austritt der Giftwolke, begann die Evakuierung in Zone A, die am stärksten betroffen war. Rund 750 Personen verließen ihre Häuser.1)
Nur Infotafeln erinnern
Acht Jahre später starteten in Zone A die Abrissarbeiten. Zudem wurde Boden abgetragen, Vegetation entfernt und schließlich der Park Bosco delle Querce angelegt. Nicht nur das Schild am Spielplatz, auch Infotafeln entlang der Parkwege erinnern heute an die Chemiekatastrophe. Am Ende der Straße „Via Icmesa“ in Meda (Foto), auf dem früheren Werksgelände, befindet sich jetzt ein Sportzentrum. Teile der Fabrikmauer stehen noch. Hier hängt ebenfalls eine Infotafel.

Die Straße Via Icmesa in Meda führt zu dem ehemaligen Werksgelände, auf dem sich das Chemieunglück ereignete.
Foto: Uta Neubauer
Ansonsten ist in Seveso, Meda und den anderen betroffenen Orten auf den ersten Blick nichts mehr zu erkennen von dem Chemieunfall. Die Gemeindevorsteher seien sich der damaligen Katastrophe und deren Auswirkungen natürlich bewusst, sagt Maurizio Zilio, Präsident der Umweltschutzorganisation Legambiente Laura Conti in Seveso. Aber auf die heutigen Bürger treffe das nicht unbedingt zu. Einige spazierten durch den Park Bosco delle Querce, ohne seine Vorgeschichte zu kennen.
Abtreibungen ausnahmsweise erlaubt
Unter den Menschen, die im Sommer 1976 im betroffenen Gebiet wohnten, hat niemand die gespenstischen Umstände von damals vergessen, zumal sich die Katastrophe auf etliche Leben auswirkte – auch dahingehend, dass Manchen keins geschenkt wurde. Im August 1976 wurde in Seveso eine Beratungsstelle für Schwangere eingerichtet. Abtreibungen waren damals in Italien verboten, aber jetzt galt eine Sonderregelung, denn TCDD kann ungeborenes Leben schädigen. Über 20 Schwangere ließen vorsorglich einen Abbruch durchführen. Fehlbildungen wurden allerdings bei keinem der in den folgenden fünf Jahren geborenen Kinder, deren Eltern damals in dem kontaminierten Gebiet lebten, festgestellt.
Aber: Je höher die TCDD-Konzentrationen in den Blutserumproben der Väter waren, desto mehr Mädchen wurden geboren, wie ein Team um den Biochemiker Paolo Mocarelli von der Universität Mailand-Bicocca feststellte.2) Besonders ausgeprägt war der Effekt bei jenen Männern mit hoher TCDD-Belastung, die 1976 jünger als 19 Jahre waren. Sie zeugten in den Folgejahren 81 Mädchen, aber nur 50 Jungen. Üblicherweise beträgt das Geschlechterverhältnis weltweit 100 Mädchen zu 106 Jungen. Die Gründe für die Umkehr sind noch nicht geklärt. Bei anderen Umweltgiften tritt der Effekt auch auf, etwa bei polychlorierten Biphenylen oder Bisphenol A.
Mocarelli führte noch mehr Studien zu den gesundheitlichen Folgen der TCDD-Verschmutzung durch. So entdeckte er mit finnischen Forschenden Entwicklungsstörungen im Gebiss solcher Kinder, die zum Unfallzeitpunkt in dem betroffenen Gebiet lebten.3) Sie hatten verglichen mit einer unbelasteten Kontrollgruppe vermehrt Zahnschmelzdefekte, die weder auf Ernährung noch auf Karies zurückzuführen waren. Außerdem hatte sich das Gebiss bei sechs von 48 Personen mit TCDD-Belastung, also knapp 13 Prozent, nicht vollständig ausgebildet, es fehlten Zähne. Eine solche Zahnunterzahl kommt allerdings auch in der allgemeinen Bevölkerung vor. In der Kontrollgruppe trat sie bei drei von 65 Referenzpersonen (rund fünf Prozent) auf.
Obwohl TCDD als kanzerogen gilt, blieb die Gesamtkrebsrate in der Bevölkerung des kontaminierten Gebietes gleich, wie eine Studie aus dem Jahr 2024 zeigt. Ein Team um Angela Pesatori von der Universität Mailand hat Gesundheitsdaten von 40 000 damals Betroffenen und 180 000 Referenzpersonen aus der Region über die Jahre 1977 bis 2013 erfasst.4) Neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes kamen einzelne Krebsarten in den belasteten Zonen häufiger vor als im Referenzgebiet. So erkrankten von rund 4800 betrachteten Personen in Zone B, dem am zweitstärksten von der Giftwolke betroffenen Gebiet, 40 an Krebs des Enddarms. Pesatoris Team zufolge entspricht das einer statistisch signifikanten Erhöhung. Krebserkrankungen der Eierstöcke sowie des blutbildenden und des Lymphsystems kamen im Vergleich zum Referenzgebiet ebenfalls häufiger vor. Insgesamt waren die Fallzahlen aber so gering, dass sie die Gesamtkrebsrate nicht erhöhten. Dass die Bevölkerung frühzeitig vor dem Verzehr von Obst und Gemüse aus dem Umkreis gewarnt wurden, hat vermutlich Schlimmeres verhindert. Denn Dioxine oral aufzunehmen ist für den Menschen schädlicher als Hautkontakt oder Einatmen.
Auswirkungen auf die nächste Generation
Da sich TCDD im Fettgewebe ablagert und nur langsam abbaut – die Halbwertzeit im Körper beträgt der World Health Organization zufolge sieben bis elf Jahre –, hat sich die Belastung auf die nächste Generation übertragen. So fand ein amerikanisch-italienisches Forschungsteam einen Zusammenhang zwischen der TCDD-Belastung von Müttern, die zum Unfallzeitpunkt im kontaminierten Gebiet lebten, und Schilddrüsenstörungen ihrer Babys.5) Die in den Jahren 1994 bis 2005 geborenen Säuglinge hatten signifikant erhöhte Werte des Schilddrüsen-stimulierenden Hormons (TSH), das auf eine Unterfunktion der Schilddrüse hinweist. Im Referenzgebiet überschritten 2,8 Prozent der Kinder den TSH-Normwert im Blut, in Zone B waren es 4,9 Prozent und in Zone A 16,1 Prozent. Bei zwei der 480 untersuchten Säuglinge war die Funktionsstörung so ausgeprägt, dass sie vermutlich lebenslang mit einem Ersatzhormon behandelt werden müssen. Normalerweise tritt eine solche Störung nur bei einem von 3000 Neugeborenen auf.
Zwei andere Studien führte ein Team um Brenda Eskenazi von der University of California in Berkeley durch: die Seveso Women‘s Health Study und die Seveso Second Generation Health Study.6) Diese zeigten unter anderem eine verringerte Fruchtbarkeit sowohl der Frauen, die direkt vom Chemieunfall betroffenen waren, als auch ihrer Töchter. Eskenazi hofft, demnächst noch weitere Ergebnisse zu den Langzeitauswirkungen zu veröffentlichen. Aktuell fehle ihr aber die finanzielle Unterstützung, sagt sie, um weitere Forschung auf diesem Gebiet durchzuführen.
Immer noch Dioxin im Boden
Ebenso langwierig wie die gesundheitlichen Folgen ist die Umweltbelastung. Weil die Halbwertzeit von Dioxinen in Böden neun bis 15 Jahre an der Oberfläche und bis 100 Jahre in tieferen Schichten beträgt, ist das Erdreich in und um Seveso immer noch TCDD-kontaminiert. Lediglich in Zone A, in dem sich der Bosco delle Querce mit dem neuen Spielplatz befindet, wurde der Boden in den 1980er Jahren großflächig bis zu 45 Zentimeter tief abgetragen. In den beiden anderen Belastungszonen haben Tiefpflügen, Aufbringen unbelasteter Erde und Begrünen die Gefährdung verringert. Vorsicht ist hier nach wie vor bei Erdbauarbeiten geboten, derzeit beim Ausbau einer Staatsstraße, an der Seveso liegt. Um zu vermeiden, dass sich TCDD mit aufgewirbelter Erde in der Luft verteilt, finden hier gerade Sanierungsarbeiten statt. In den vergangenen 15 Jahren hätten Seveso und einige angrenzende Orte zudem ihre Bauvorschriften geändert. Es müssen Bodenanalysen auf Dioxin vorliegen, damit neue Gebäude genehmigt werden, erklärt Maurizio Zilio.
Fast fünf Jahrzehnte, nachdem die Giftwolke bei Icmesa austrat, sind Seveso und die Nachbargemeinden also immer noch mit der Schadensbegrenzung beschäftigt. Kaum vorstellbar, wie verheerend sich der Unfall ohne das Eingreifen Carlo Galantes ausgewirkt hätte.
Die Autorin
Uta Neubauer, promovierte Chemikerin und freie Wissenschaftsjournalistin, besuchte die italienische Stadt Seveso 49 Jahre nach dem Chemieunfall in der Fabrik Icmesa.
Quellen
- 1 P. Kramer, M. Braun, M. H. K. Bendels, Zbl. Arbeitsmed. 2019, 69, 319–326
- 2 P. Mocarelli, P. M. Gerthoux, E. Ferrari et al., Lancet 2000, 355, 1858–1863
- 3 S. Alaluusua, P. Calderara, P. M. Gerthoux et al., Environ. Health Perspect. 2004, 112, 1313–1318
- 4 D. Consonni, M. Rognoni, L. C. d‘Oro, A. C. Pesatori, Occup. Environ. Med. 2024, 81, 349–358
- 5 A. Baccarelli, S M. Giacomini, C. Corbetta et al., PLoS Med. 2008, 5, 1133–1142
- 6 B. Eskenazi, J. Ames, S. Rauch et al., Hum. Reprod. 2021, 36, 794–807
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in den Nachrichten aus der Chemie (Nachr. Chem.), Heft 07/2025 (Herausgeber: Gesellschaft Deutscher Chemiker e.V., Verleger: Wiley-VCH-Verlag GmbH Co KGaA, Weinheim) https://www.gdch.de/publikationen/nachrichten-aus-der-chemie.html

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