Die Mechanik der Polymere

 

100 Jahre Makromolekulare Chemie

Polymere sind mechanisch viskoelastische sowie nicht-Newtonsche Materialien. Die Schubspannung eines Polymers hat einen elastischen sowie einen viskosen Anteil und die Viskosität von Polymerschmelzen oder Lösungen ist eine Funktion der Scherrate. Stellt man sich Polymere als einen Teller Spaghetti vor, ist es leicht verständlich, dass die Mechanik der Polymere durch ihre molekularen Eigenschaften beeinflusst werden. 

Die Lehre des Fließverhaltens

Für Verarbeitung und Anwendung von Kunststoffen ist die Mechanik der Polymere von fundamentaler Wichtigkeit. Ein Polymer muss einerseits verarbeitbar sein wie in Extrusion oder Spritzguss, wofür die Viskosität nicht zu hoch sein darf – andererseits muss es aber in der Anwendung als Feststoff über ausreichend mechanische Stabilität verfügen. Die Mechanik der Polymere untersucht das Fachgebiet der Rheologie (Griechisch „Rheos“ für fließen und „logos“ für Lehre). Sie beschäftigt sich mit dem Fließ- und Verformungsverhalten von Materialien unter einer Deformation oder Belastung. Sogenannte Rheometer messen die Materialantwort bzw. die von der Probe erzeugte Schubspannung σ (gemessene Kraft, normiert auf die Probendimensionen, σ = F/A) als Reaktion auf eine Deformation γ.
Die Rheologie der Polymere teilt sich in die Mechanik der Polymerschmelzen und Lösungen, Polymeremulsionen oder Dispersionen, wie z.B. Wandfarben, sowie des Festkörpers auf. 
 

Das Molekül bestimmt die Mechanik

Auf der molekularen Ebene verschlaufen Polymere ab einem bestimmten Mindestmolgewicht und bilden physikalische Netzwerke aus, ähnlich zu gekochten Spaghetti. Demnach sind die molekularen Eigenschaften eines Polymers sehr wichtig für die mechanischen Eigenschaften sind oder anders ausgedrückt: das Molekül macht die Mechanik.

Polymere verhalten sich in Schmelze und als Festkörper viskoelastisch, d.h. die Schubspannung ist sowohl elastisch als auch viskos. Das Verhältnis des elastischen und viskosen Anteiles in der Schubspannung ändert sich je nach Deformation und Deformationsrate. Im Festkörper verhalten sich Polymere zudem viskoplastisch, d.h. bei Verformung jenseits einer kritischen Deformation kehrt die verformte Probe nicht mehr in ihren Ausgangszustand zurück. Diese Viskoplastizität entsteht durch die Mobilität der Polymerketten, die nebeneinander vorbeigleiten können, ohne dass das Material bricht, z.B. bei semi-kristallinen Polymeren wie Polyethylen oder Polyamid.

Daher ist in der Rheologie die Längen- und Zeitskala der Perspektive des Betrachters von außerordentlicher Bedeutung. Je nach Betrachtungsweise können unterschiedliche Erkenntnisse bezüglich der Verformung eines Materials gewonnen werden. So beschreibt auch die Bibel: „fließen die Berge vor dem Herrn“ (Bibel, Richter 5.5). Auf der vermeintlich kurzen Zeitskala eines menschlichen Betrachters erscheinen die Berge hingegen unverformbar. Die Deborah-Zahl beschreibt diese Zeitskala Abhängigkeit, indem die Relaxationszeit der Probe mit der Betrachtungszeit oder des externen Stimulus korreliert wird. 

Phänomene viskoelastischer Materialien

Fluide können im Allgemeinen in zwei rheologische Kategorien eingeteilt werden: Newtonsche (z.B. Wasser) und nicht-Newtonsche Fluide (z.B. Mayonnaise, Ketchup oder Seife). Die Viskosität Newtonscher Fluide ist unabhängig von der Schergeschwindigkeit, wohingegen sich die Viskosität nicht-Newtonscher Fluide als Funktion der Schergeschwindigkeit ändert. Polymerschmelzen und Lösungen sind typischerweise nicht-Newtonsche Fluide und weisen nur bei sehr kleinen Scherraten linear viskoses Fließverhalten auf, die sogenannte Nullscherviskosität. Dieses Scherraten-abhängige Verhalten lässt sich anhand von zwei Beispielen leicht verbildlichen: Rührt man Wasser in einem Becher mit einem Stab um, bleibt die Oberfläche glatt. Nicht-Newtonsche Fluide, die den sogenannten Weissenbergeffekt zeigen, benannt nach dem Physiker und Rheologen Karl Weissenberg, steigen hingegen am Stab hoch. Auch Spätzleteig, Honig oder Ketchup zeigen diesen Effekt. Im Alltag finden wir noch einen weiteren nicht-Newtonschen Effekt: Dreht man eine Flasche Ketchup um, scheint das Ketchup fest zu sein und fließt nicht aus der Flasche heraus. Schüttelt man die Flasche stark, wird Ketchup flüssig und fließt aus der Flasche. Fluide, die je nach Scherrate entweder fest oder flüssig erscheinen, werden Bingham Fluide genannt. Beim Austreten aus einer Düse, z.B. einem Wasserhahn, fließt ein Newtonsches Fluid wie Wasser nach unten heraus, wohingegen ein nicht-Newtonsches Fluid, wie z.B. Seife oder eine Polymerschmelze, beim Austritt aus der Düse anschwillt.

Beschreibung der Eigenschaften

Viskoelastische Eigenschaften kann man mit Hilfe von konstitutiven Modellen beschreiben, die auf den Modellen für ideale elastische bzw. viskose Materialien basieren. Das sogenannte Hookesche Gesetz in Gl. (1) beschreibt die Schubspannung σ eines perfekt elastischen Materials, d.h. einer Feder, als Funktion der Verscherung γ mit dem Modul G als Proportionalitätskonstante. Ein ideales viskoses Material hingegen wird mit dem Newtonschen Modell in Gl. (2) beschrieben, die Schubspannung hängt von der Viskosität η sowie der Scherrate γ ̇  ab.

σHooke= Gγ    (1)

σNewton= ηγ ̇  (2)

Um die Viskoelastizität von Polymeren zu beschreiben, kombiniert man das Hooksche und das Newtonsche Modell in Serie (Maxwell) und/oder in Parallel (Kelvin-Voigt).
 

Zeit-Temperatur-Superposition

Eines der wichtigsten Konzepte der rheologischen Polymercharakterisierung ist die Zeit-Temperatur-Superposition (Englisch Time-Temperature-Superposition (TTS)). Die TTS basiert auf der Annahme, dass sich die Mobilität der Polymere monoton und kontinuierlich als Funktion der Temperatur ändert und das Verhältnis der Relaxationszeiten eines Polymers unabhängig von der Temperatur ist. Sind die Module eines Polymers bei einer bestimmten Temperatur bekannt, können diese bei anderen Temperaturen vorhergesagt werden. Mit diesem Prinzip wurde die in Abbildung 2 gezeigte Masterkurve für ein Polystyrol (PS) gemessen. Diese Kurve zeigt die vorhersagende Kraft von TTS, da es 18 Dekaden in Frequenz abbildet sowie die mechanischen Parameter G‘ und G‘‘ von der Polymerschmelze (bei niedrigen Frequenzen) bis hin zum Feststoff beschreibt.

Um auf den Einfluss der Zeitskalen zurückzukommen; Masterkurven zeigen, dass Polymere bei sehr hohen Frequenzen fest sind, da die Module im GPa Bereich sind. Bei niedrigen Frequenzen ist die Probe dominant viskos (G‘‘ > G‘) und die Module unter 1 kPa, die Probe fließt.

Einfluss molekularer Eigenschaften auf die Rheologie der Polymere

Einen besonderen Einfluss auf die Mechanik und Rheologie von Polymeren haben deren molekularen Eigenschaften wie das Molgewicht, die Polydispersität oder die Topologie (linear oder verzweigt). Dies ist einfach verständlich, wenn man sich die Polymerschmelze wie einen Teller gekochter Spaghetti vorstellt. Schneidet man die Spaghetti in kleine Teile, nimmt die mechanische Stärke bzw. die Viskosität der Spaghetti drastisch ab. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Verschlaufen der Polymerketten (engl. „entanglement“), da sich durch Überkreuzungen von Polymerketten physikalische Netzwerke ausbilden. Dies tritt für jedes Polymer bei einem charakteristischen Molgewicht (Me) ein. Abbildung 3a) zeigt beispielhaft an PS, Polymethylmethacrylat (PMMA) und Polyethylenterephthalat (PET), dass die Viskosität allgemeingültig für Homopolymerschmelzen mit einem Exponenten von 3,4 als Funktion des gewichtsgemittelten Molgewichtes (Mw) oberhalb eines kritischen Molgewichtes von 3Me skaliert. Auch im Festkörper hat das Molgewicht einen drastischen Einfluss auf die mechanischen Eigenschaften wie Modul, Zugfestigkeit oder Materialermüdung. In Abbildung 3b) ist die Zyklenzahl bis zum Versagen der Probe, Nf, als Funktion der Deformationsamplitude γ0 für PS mit unterschiedlichen Mw  aufgetragen – mit steigendem Mw nimmt Nf  drastisch zu. 

Da Polymere, sowohl die, die verarbeitet werden, als auch in der Anwendung mechanisch stabil sein sollen, ist die Optimierung der molekularen Eigenschaften wichtig. Ein zu hohes Molgewicht führt zu einer sehr hohen Viskosität in der Schmelze, ein zu niedriges Molgewicht aber zu geringer mechanischer Stabilität. 

Autoren: Valerian Hirschberg und Prof. Dr. Manfred Wilhelm* (Institut für Technische Chemie und Polymerchemie, Karlsruher Institut für Technologie (KIT))
Redaktionelle Bearbeitung: Lisa Süssmuth, GDCh

Die Makromolekulare Chemie feiert in diesem Jahr hundert Jahre. Jeder von uns ist Makromolekülen schon begegnet, zum Beispiel in Form von Kunststoff. Zum Jubiläum zeigen unsere Beiträge dieses Jahr, wo Makromoleküle vorkommen.

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