„Gib Gummi!“ - Teil II

 

100 Jahre Makromolekulare Chemie

Ein Luftreifen ist mehr als eine Art robuster Luftballon. 

Ein Ballon würde die Kräfte eines Fahrzeugs beim Fahren nicht aushalten. Ein normaler PKW wiegt etwa eine Tonne, schafft 180 km/h, und bremst in wenigen Sekunden. Um ein Fahrzeug zu lenken, müssen hohe Seitenkräfte aufgebracht werden. 
 

Aufbau eines Luftreifens

Der heutige Luftreifen ist ein Verbundwerkteil aus festen Textil oder Stahlkorden und elastischen Gummimischungen. 

Ein typischer Reifen besteht aus:

  • Dem Wulst, bei dem ein starker Drahtring, der Wulstring, den Reifen auf der Felge hält, umhüllt von einer Gummimischung, die den Reifen luftdicht gegen die Felge abdichtet. Darauf sitzt der Kernreiter aus einer besonders harten Mischung, die den Übergang vom festen Wulstbereich zur flexiblen Seitenwand bildet.
  • Der Innenschicht, die besonders luftundurchlässig ist, um den Reifendruck zu halten (siehe oben).
  • Dem Reifenkörper, der Karkasse, ein Verbund aus einer Kautschukmischung und festen Stahl- oder Textilkorden (Nylon, Rayon, Polyester oder Aramid). Dieser Verbund vereinigt die sehr elastischen Kautschuke mit den festen, kaum dehnbaren Verstärkungskorden. Ein solcher Verbund ist gleichzeitig kaum deformierbar (in Kordrichtung) und flexibel (senkrecht zur Kordrichtung). Hohe Reifenkräfte können so übertragen werden, der Reifen bleibt formstabil, und ist trotzdem elastisch. 
  • Den Gürtellagen, einem Verbund aus (häufig) Stahldraht und einer steif ausgelegten Gummimischung. Sie ermöglichen Umfangsstabilität: der Reifenumfang ändert sich nur wenig bei allen Fahrmanövern; trotzdem kann der Reifen sich in der Aufstandsfläche abplatten und so genügend Straßenkontakt halten, auch bei Kurvenfahrt. Eingelegte Schulterstreifen sorgen für zusätzliche Stabilität bei Lenkmanövern. 
  • Der Lauffläche, aus einer auf Straßenhaftung ausgelegten Mischung und einem Profil aus Stollen oder Rippen, die erlauben, Wasser oder Matsch beiseite zudrücken.

Nur die Laufflächenmischung, „Gummi“ also, ist im Kontakt mit der Straße. Das Laufflächengummi muss durch Reibung auf der Straße haften. Ohne Reibung (zum Beispiel bei Glatteis) ist weder Bremsen, Beschleunigen noch Lenken eines Fahrzeugs möglich. Reibung heißt, Energie zu dissipieren – sie wird in Wärme umgewandelt. Wie geht das mit der Forderung einher, dass der Reifen möglichst wenig Energie bei jeder Umdrehung verlieren sollte?
 

Den passenden Kautschuk finden

Gummireibung hängt direkt mit dem viskoelastischen Spektrum des Polymers zusammen. Es sind vor allem die Kettenbewegungen bei höheren Frequenzen, die durch Reibung mit den feinen Oberflächenrauigkeiten angeregt werden, und damit auch Energie verlieren.

Ganz grob kann man folgende Bereiche unterscheiden:

1 – 100 Hz: Reifendeformationen

100- 3 000 Hz: Laufflächenstollendeformationen, Reifenschwingungen

3 000 – 10 000 Hz: Wechselwirkung mit den Rauigkeiten der Oberfläche

>10 000 Hz: Wechselwirkung mit den Mikrorauigkeiten

Wir suchen also für die Lauffläche Kautschuke und Mischungen, die bei niedrigen Frequenzen wenig Energie absorbieren, bei hohen aber wohl.

Ein Frequenzspektrum über einen solch großen Bereich ist schwer zu messen. Deshalb greift man auf das Temperaturspektrum zurück. Mischungseigenschaften (Modul und Energieverluste) bei niedrigen Frequenzen (und hoher Temperatur) entsprechen Mischungseigenschaften bei hohen Temperaturen (und niedriger Frequenz) und umgekehrt. Beide beruhen auf dem gleichen Prozess, wie schnell und leicht die beweglichen Segmente sich einer Deformation anpassen. 

Das Spektrum sieht so aus:
 

G‘ ist der elastische Anteil des Moduls, G“ das viskose Modul; tanδ ist das Verhältnis zwischen G“ und G‘ und eine Abschätzung des Energieverlusts.

Die Straßenhaftung auf nasser Straße (der Bremsweg) kann direkt mit dem Energieverlust im Bereich 0 bis + 20 ˚C korreliert werden, dagegen wird der Rollwiderstand oft durch den Energieverlust bei 60 ˚C abgeschätzt. Eine Laufflächenmischung sollte damit (relativ) hohe Energieverluste bei niedrigeren Temperaturen haben, aber relativ niedrige im Bereich um und oberhalb 60 ˚C. Relativ – denn eine völlige Entkopplung dieser Eigenschaften ist nicht möglich, da sie auf den Bewegungen der Kettensegmente ein und desselben Polymers beruhen. Doch schon Änderungen von wenigen Prozent machen sich im Reifenverhalten bemerkbar. Ganz grob korreliert zudem der Abrieb einer Lauffläche mit Tg: je niedriger die Glastemperatur, je geringer ist der Abrieb. 

Die Position von Tg und die Form des Spektrums bestimmen also nicht nur, ob der Reifen im Winter noch flexibel genug ist, und den Rollwiderstand des Reifens, sondern im Fall der Lauffläche auch die Straßenhaftung unter verschiedenen Bedingungen.

Gummi im Reifen: ja, es gibt mehr als einen Grund. Vernetzte Elastomere bieten gleichzeitig hohe reversible Dehnbarkeit, Luftundurchlässigkeit, niedrigen Rollwiderstand und gute Straßenhaftung.  Durch die Verbundstruktur im Reifen können Elastomere ihre Stärken ausspielen.

Seit der Erfindung des Luftreifens sind mehr als hundert Jahre vergangen, und gemeinsam mit den Fahrzeugen hat sich auch der Reifen weiterentwickelt. Doch die Reifenentwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen: neue Anforderungen (e-Mobilität, luftlose Reifen) werden neue Lösungen erfordern, gerade auch für die verwendeten Polymere!
 

Autorin: Dr. Annette Lechtenboehmer (mit freundlicher Unterstützung der Firma Goodyear)
Redaktionelle Bearbeitung: Lisa Süssmuth, GDCh 

Die Makromolekulare Chemie feiert in diesem Jahr hundert Jahre. Jeder von uns ist Makromolekülen schon begegnet, zum Beispiel in Form von Kunststoff. Zum Jubiläum zeigen unsere Beiträge dieses Jahr, wo Makromoleküle vorkommen.

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