Makromolekulare Chemie im Papier – gestern, heute und morgen

 

100 Jahre Makromolekulare Chemie

Kaffee oder Tee zubereiten, Zerealien aus der Schachtel zum Frühstück und für manche von uns noch eine Zigarette. Dabei eventuell die Post vom Vortag durchsehen und noch einen Einkaufszettel schreiben. Auf dem Weg zur Arbeit ein Päckchen zur Post bringen, ein belegtes Brötchen kaufen und ein Busticket ziehen … so oder so ähnlich beginnt für viele Menschen ein ganz normaler Tag.

Vom händischen Papierschöpfen bis zur modernen Papierproduktion auf fußballfeldgroßen Papiermaschinen – ein historischer Abriss

Als unverzichtbar für dieses Leben erweist sich ein moderner Polymerwerkstoff, der trotz (oder vielleicht gerade wegen) seiner Allgegenwärtigkeit und Vielgestaltigkeit nur von den Wenigsten bewusst wahrgenommen wird: Papier.

Der flächige Werkstoff Papier besteht definitionsgemäß aus „Fasern meist pflanzlicher Herkunft“ und wird „durch Entwässerung einer Faserstoffaufschwemmung auf einem Sieb gebildet“.[1] Mit dieser Definition wird unter anderem die Abgrenzung zum Papyrus getroffen, ein Material, das zwar als Namensgeber diente, das aufgrund seines Fertigungsverfahrens (über Kreuz laminierte Streifen des Papyrusstauden-Stängels) jedoch nicht als „erstes Papier“ bezeichnet werden kann. Die zuvor genannten Fasern selbst bestehen zu mehr als 95 % aus Makromolekülen, wie Cellulose, diversen Polyosen und Lignin. Damit ist Papier grundsätzlich ein makromolekulares Material. Neben den biogenen Makromolekülen enthält Papier heute noch eine Reihe weiterer, häufig synthetischer Polymere, die als Prozess- und Funktionschemikalien eingesetzt werden und auf die kurz in Abschnitt 2 eingegangen wird.

Die eigentliche Erfindung des Papiers erfolgte in China, wo der Herstellungsprozess bereits im 1. Jh. n. Chr. erstmals beschrieben wurde. Über Asien und den Orient gelangte die Expertise der Papierproduktion über den Mittelmeerraum nach Europa bis bei Valencia im Jahr 1144 das erste Papier auf europäischem Boden gefertigt wurde. Neben dem Papierschöpfen bestand die Kernaufgabe der sich über den gesamten Kontinent verbreitenden Papiermühlen zu dieser Zeit in der Vorbereitung des Papierrohstoffes. Bis ins 19. Jh. hinein waren das ausschließlich Alttextilien aus Hanf, Leinen und Baumwolle (sogenannte Hadern und Lumpen) sowie Seilerei- und Spinnereiabfälle. Diese Materialien wurden von Lumpensammlern zusammengetragen und an den Papiermühlen zu Faserbrei zerstampft. Der zunehmende Bedarf an Papier (unter anderem hervorgerufen durch die Erfindung des Buchdruckes) führte jedoch sehr bald zu Engpässen bei der Versorgung mit diesem Rohstoff. Lumpen entwickelten sich in dieser Zeit zu einem begehrten Schwarzmarktgut und wurden trotz regulierender Dekrete und der Androhung harter Strafen über Grenzen geschmuggelt und an den Meistbietenden verschachert.

Auf der Suche nach neuen Faserstoffquellen für die Papiererzeugung gelang es schließlich im Jahr 1843 den Rohstoff Holz durch mechanische Zerkleinerung in nutzbare Fasern zu überführen. In diesem als Holzschliff bezeichneten, energieintensiven Verfahren wurden Baumstämme entlang ihrer Wuchsrichtung gegen einen nassen Schleifstein gepresst. Da dieses Vorgehen einen Faserstoff (Holzstoff) lieferte, der noch nicht allen Anforderungen der Papiermacher und -nutzer gerecht wurde, gab es in den folgenden Jahrzehnten weitere Entwicklungen zum Aufschluss von Holz. Besonders hervorzuheben sind in diesem Kontext die Meilensteine des chemischen Holzaufschlusses, wie das 1867 entwickelte „Sulfitverfahren“ oder das 1870 erstmals beschriebene „Sulfatverfahren“. Bei diesen Ansätzen wurde Holz nicht in seiner ursprünglichen Komposition belassen und lediglich zerkleinert, sondern durch die Behandlung mit geeigneten Chemikalien wurde unter Druck und Temperatur das Lignin aus dem (natürlichen Faserverbundwerkstoff) Holz herausgelöst. Der damit erhaltene, hauptsächlich aus dem Makromolekül Cellulose bestehende, Zellstoff ist bis heute der bedeutendste Faserrohstoff der Papierindustrie.

Doch es soll nachfolgend nicht die Cellulose sein, die als Bindeglied zwischen Papier und Makromolekularer Chemie hervorgehoben wird. Denn Papier wie wir es heute kennen und nutzen, wäre sowohl in seinem globalen Produktionsvolumen (~ 420 Mio. t/a) wie auch seiner Einsatzbreite (weltweit zirka 3000 verschieden Sorten) ohne moderne Makromoleküle und die enormen Fortschritte in den letzten hundert Jahren in diesem Bereich undenkbar.[2]

Fortschritte in der Polymerforschung als Schlüssel für eine moderne Papierproduktion und funktionelle Papiermaterialien

Die Zusatzstoffe, die bei der Papierproduktion zum Einsatz kommen, werden allgemein als Papieradditive bezeichnet und genau genommen nochmals in Prozess- und Funktionsadditive differenziert.[3] Die Prozessadditive dienen dem Einstellen und der Optimierung der Prozesse, die beim Papiermachen ablaufen. Diese reichen von der Flokkulation der Zellstofffasern in Suspension über die Fixierung störender Inhaltsstoffe, wie natürlichen Huminsäuren oder synthetischen Klebereste aus Altpapieren, bis hin zur Entwässerung des feuchten Faservlieses. Erst die – insbesondere in den letzten 50 Jahren eingesetzten – makromolekularen Substanzen, haben den Übergang von einzeln geschöpften Papierbögen zur kontinuierlichen Produktion mit Geschwindigkeiten von bis zu 2000 m/min ermöglicht und damit für eine breite Verfügbarkeit des Papiers gesorgt. Zu dieser Additivklasse zählen Fixier- und Retentionsmittel unter anderem auf der Basis von positiv geladenen Polyethyleniminen, Polyacrylamiden oder speziell funktionalisierter Stärke. Erstgenannte wurden als Additiv umfangreich in den 1960er und 1970er Jahren beforscht und seitdem als Papieradditiv eingesetzt. Als Flockungs- und Entwässerungshilfsmittel kommen seit den 1980er Jahren ebenfalls positiv geladene Polymere wie Polyethylenimine und Polyacrylamide zum Einsatz.[4]

Zur Abgrenzung dazu wird mit Hilfe von Funktionsadditiven beabsichtigt, dem Papier spezifische Eigenschaften/Funktionen zu verleihen, die reine Fasergelege nicht aufweisen. Darunter fallen zum Beispiel erhöhte Nass- und Trockenfestigkeiten, die über quervernetzende Polymer-Additive, auf Basis von Melamin-Formaldehydharzen, Polyacrylamiden oder Isocyanaten, einstellbar sind. Durch Variation der chemischen Beständigkeit der entstehenden Netzpunkte (zum Beispiel als Ether-, Urethan- oder Acetalbindung) lassen sich Papiere erzeugen, die im feuchten Zustand entweder für lange Zeit sehr reißfest sind („permanente Nassfestigkeit“ wie bei Küchenkrepp und Kaffeefilter) oder sich nach kurzer Dauer in ihre Faserbestandteile zerlegen lassen („temporäre Nassfestigkeit“ wie bei Toilettenpapier).[5]

Eine weitere wichtige Klasse an makromolekularen Funktionsadditiven sind polymere Bindemittel, wie Styrol-Butadien- oder Styrol-Acrylat-Latices, die in Papierbeschichtungen, dem so genannten Papierstrich eingesetzt werden. Durch das Auftragen einer Streichfarbe wird dem Papier eine homogenere, glattere und hellere Oberfläche verliehen, was die Grundvoraussetzung für höherwertige Druckerzeugnisse ist. Dem Bindemittel kommt dabei die Funktion zu, mineralische Pigmente wie Kalk/Kreide, Ton oder Titandioxid untereinander und mit dem Papier zu verbinden.[3]

Schließlich sollen an dieser Stelle auch die vielfältig eingesetzten Polymere nicht unerwähnt bleiben, die als Barrierebeschichtungen auf Papiermaterialien für flexible Verpackungen zum Einsatz kommen, wie beispielsweise Polyethylen oder Polyvinylidenchlorid. Auch beim Aufbringen von Farbstoffen auf die Fasern oder dem Zusatz von Brandschutzmitteln kommen heute polymere Fixiermittel zum Einsatz. Erst durch alle diese Modifikationen von Papieren mit funktionellen Polymermaterialien sowie mit Hilfe moderner Polymeradditive im Prozess lassen sich die unterschiedlichen Anforderungsszenarien zum Beispiel eines Teebeutels, eines Getränkebechers, eines Geldscheins oder eines Luftfilters bedienen, woraus die bereits genannte Breite der Papieranwendungen resultiert. Gemessen an der Bedeutung für den Prozess und für die Funktion von modernen Papiermaterialien ist es sehr beeindruckend, dass die bei der Papierherstellung eingesetzten Materialien nur zu zirka 2–3 % aus chemischen, zumeist makromolekularen Additiven bestehen. Bei den verbleibenden ~ 97 % handelt es sich um natürliche Rohstoffe wie Zell- und Holzstofffasern sowie Mineralien, deren stoffliche Wiederverwertung (Recycling) relativ einfach möglich ist und aus Gründen der Energie- und Ressourceneffizienz auch angestrebt werden sollte. In Deutschland, dem viertgrößten Papiererzeuger der Welt, bestehen über 70 % des produzierten Papiers aus wiederverwendetem „Altpapier“. [2]

Aktuelle und zukünftige Trends in der chemischen Papierforschung – auf dem Weg zu klimaneutralen, nachhaltigen Prozessen und zirkularen Wertstoffkreisläufen

Der zunehmend kritische Umgang mit petrochemischen Polymeren und die damit verbundenen Anforderungen im Hinblick auf ein effizientes Recycling oder die Bioabbaubarkeit der eingesetzten Polymermaterialien stellt die Papierchemie der Zukunft vor bedeutende und herausfordernde Aufgaben. Einerseits werden Ausrüstungs-/Funktionalisierungs- und Veredelungsstrategien für eine stetig wachsende Zahl von Papieranwendungen gefordert. Gleichzeitig sind jedoch bei der Umsetzung immer strengere Rahmenbedingungen und Reglementierungen zu berücksichtigen.

Im Gegensatz zu den letzten Dekaden des vergangenen Jahrhunderts, als Runnability und Produktivitätssteigerungen bei der Papierproduktion im Mittelpunkt standen und Polymeradditive gezielt für diese Steigerungen entwickelt wurden, beschäftigen mittlerweile verstärkt Fragen zu nachhaltigen klimaneutralen Prozessen, Energieeffizienz und zirkulären Wertstoffkreisläufen die Branche. Mit diesen Entwicklungen ist gleichermaßen auch die chemische Zulieferindustrie gefordert, allen voran die Unternehmen, welche sich um die Entwicklung neuer Polymermaterialien für den Einsatz in Papier bemühen. Bei der Substitution von etablierten Kunststoffen durch papierbasierte Alternativen in Anwendungen wie Folienverpackungen, Trinkhalmen und -bechern oder Dämmmaterialien sind daher Nachhaltigkeit und Funktion in geeigneter Weise zu vereinen. Die gleiche Herausforderung betrifft selbstverständlich auch völlig neue Papier-Nutzungskonzepte wie beispielsweise die papierbasierte Mikrofluidik für diagnostische und analytische Anwendungen, die Verwendung von Papier als biologisches Kulturmedium oder papierbasierte Konstruktionsmaterialien für Leicht- und Fahrzeugbau und klassisches Bauwesen. [5]

Auf der Suche nach Alternativen für bisher genutzte Papieradditive gewinnen nachwachsende Rohstoffe zunehmend an Bedeutung. Polysaccharide sind in diesem Zusammenhang eine sehr vielseitige Substanzklasse, denn mit Guaran, Chitosan, Alginsäure und Co. lassen sich nicht nur Barrierebeschichtungen realisieren, sondern es kann auch Einfluss auf die Nassfestigkeit, das Flockungs- und Entwässerungsverhalten und sogar das Brandverhalten genommen werden.

Darüber hinaus sind aber auch natürliche niedermolekulare Wachse und Öle für Hydrophobierungs- und Barrierezwecke nutzbar. Es ist das Ziel dieser aktuellen Forschungen, Papier als nachhaltigen Werkstoff mit seinen intrinsischen Eigenschaften: Rezyklierbarkeit und Bioabbaubarkeit nicht durch Additive oder Beschichtungskomponenten zu konterkarieren. Vielmehr gilt es in Zukunft noch stärker Hand in Hand zu forschen zwischen Verfahrenstechnologien, die es braucht, um Papiere klimaneutraler herzustellen, und einer modernen Makromolekularen Chemie, die sich stärker den Herausforderungen biogener Rohstoffe sowie der Entwicklung von nachhaltig rezyklierbaren Polymermaterialien zuwendet.

Autoren: Dr. Andreas Geißler, Prof. Dr. Markus Biesalski,
TU Darmstadt, Ernst-Berl-Institut für Technische und Makromolekulare Chemie
Redaktionelle Bearbeitung: Maren Mielck, GDCh

Quellen:

1

Bajpai, P.: Biermann’s Handbook of Pulp & Papermaking, Elsevier 3rd ed. 2018

2

VDP, Paper 2020, Annual Report, Verband Deutscher Papierfabriken e.V.

3

Chemical Additives for the Production of Pulp & Paper, Zellcheming Technical Committee Chemcial Additives, CHAD, 2008, Deutscher Fachverlag

4

Pelton, R.: Polymers that strengthen never-dried joints between wet cellulose surfaces – A review, Bioresources 2019, 14(1), 2389-2419.

5

Bauen mit Papier, abrufbar unter https://www.tu-darmstadt.de/bauenmitpapier

Die Makromolekulare Chemie feiert in diesem Jahr hundert Jahre. Jeder von uns ist Makromolekülen schon begegnet, zum Beispiel in Form von Kunststoff. Zum Jubiläum zeigen unsere Beiträge dieses Jahr, wo Makromoleküle vorkommen.

Dieser Beitrag wurde auf FaszinationChemie erstmalig veröffentlicht am 21.10.2020

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