Medikamentenentwicklung - wo Wirkstoffe am besten angreifen

 

Folge 3: Aktuelle Chemie 2019 – Medizin und Gesundheit

Angriffsort, Angriffspunkt, Angriffsziel oder einfach Target – es gibt viele Begriffe für ein in der Medikamentenentwicklung entscheidendes Puzzleteil: das Zielmolekül. Jedes Krankheitsbild hat eine Ursache oder ein Schloss, das es zu knacken bzw. zu öffnen gilt. Denn damit ein Medikament überhaupt wirkt, muss sich der dafür entwickelte und optimierte Wirkstoff an genau dieses krankheitsverursachende Zielmolekül im Körper des Patienten anlagern können, um es in seiner Funktion auszuschalten oder zumindest zu in seiner Wirkung zu hemmen.

Als Targetmoleküle eignen sich besonders gut Rezeptoren und Enzyme. Rezeptoren empfangen Hormone und andere Botenstoffe aus verschiedenen Bereichen des Körpers und lösen daraufhin innerhalb der Zelle eine Reaktion aus. Bekannte Beispiele sind Schmerzrezeptoren beim Kopfweh oder Beta-Rezeptoren an den Herzzellen. Diese lassen das Herz schneller schlagen, wenn sie das Hormon Adrenalin empfangen. Sie sind aber ebenso ein Target für „Beta-Blocker“, die sich an die Beta-Rezeptoren binden und sie dadurch stilllegen. Gut für Patienten, die etwa unter Bluthochdruck leiden. Noch beliebter in der Medikamentenentwicklung sind Enzyme, denn diese sind praktisch überall im Körper zu finden und führen lebenswichtige chemische Reaktionen durch. Auch Krankheitserreger besitzen Enzyme, das macht sie somit als Targets für neue Medikamente interessant, um den Erreger zu neutralisieren.

Allerdings ist die Suche nach geeigneten Zielmolekülen genauso schwierig und komplex wie die anschließende Auswahl und Optimierung der passenden Wirkstoffmoleküle. Als Targets eignen sich nur Moleküle mit bestimmten Eigenschaften. Zielmoleküle sollten natürlich entscheidend für einen Krankheitsprozess und möglichst Bestandteil des erkrankten Gewebes im Körper des Patienten sein, und sie sollten eine Angriffsstelle besitzen, an der sich ein potenzieller Wirkstoff anlagern kann.

Bei der Targetfindung sind Ausdauer, Spürsinn und Glück wichtig. Oft finden Unternehmen der pharmazeutischen Industrie Hinweise auf aussichtsreiche Targets in ihren eigenen Forschungslabors, in der wissenschaftlichen Literatur oder in Patentschriften. Manchmal ergeben sich Anhaltspunkte durch kooperierende Forschergruppen. Von großem Nutzen hat sich die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts erwiesen, da sich aus den Gensequenzen wertvolle Hinweise auf das Zusammenspiel der Biomoleküle im Körper ergeben und sich so potenzielle Targets leichter erkennen lassen können.

Leberkrebs: Über Umwege zur erfolgreichen Targetfindung

Wie enorm komplex Targetfindung ist, zeigt ein Beispiel der Universität Tübingen, wo Forscher ein neues Angriffsziel bei Leberkrebs entdeckt haben. Einen Beitrag dazu finden Interessierte unter  www.gesundheitsindustrie-bw.de/de/fachbeitrag/aktuell/neues-angriffsziel-bei-leberkrebs-entdeckt.  Die Behandlung von Krebs setzt viele Aktivitäten in Gang, daher ist die Suche nach passenden Targets für die Entwicklung von Wirkstoffen eine besondere Herausforderung. Leberzellkarzinome sind weltweit die zweithäufigste Krebstodesursache, da der Tumor oft erst entdeckt wird, wenn er schon weit fortgeschritten ist. Leberzellkarzinome entwickeln sich meist aus einer Leberzirrhose und wachsen aggressiv. Eine Forschergruppe um Prof. Dr. Lars Zender, Leiter der Sektion für Translationale Gastrointestinale Onkologie am Universitätsklinikum Tübingen konnte aber einen wunden Punkt des Tumors ausfindig machen: ein tumortreibender Komplex aus den Proteinen C-MYC und AURKA, der medikamentös destabilisiert werden kann.

Als Transkriptionsfaktor (das ist ein spezielles DNA-Bindungsprotein) sorgt das C-MYC dafür, dass unter anderem wachstumsfördernde und tumorerhaltende Gene abgelesen werden können. „Wenn man in der krebskranken Maus das Protein ausschaltet, kann sich der Tumor nicht so schnell anpassen und schrumpft“, beschreibt Professor Zender (Quelle: oben angegebener Beitrag). Der Ansatz könnte ein Durchbruch in der Therapie vieler Krebserkrankungen bedeuten, denn bisher waren alle Versuche gescheitert, den Transkriptionsfaktor direkt zu blockieren, weil seine Oberfläche keinerlei Vertiefungen aufweist, in denen kleine hemmende Moleküle andocken könnten.

Zenders Team ist aber über Umwege auf die Lösung des Problems gekommen. Die Forscher fanden einen indirekten Weg, um die Konzentration des C-MYC-Proteins zu senken. Mit kleinen Molekülen veränderten sie die Konformation eines Bindungspartners von C-MYC namens AURKA, der C-MYC stabilisiert. Dadurch kann das Tumorprotein nicht mehr an seinen Partner AURKA andocken und wird abgebaut – die Tumorzelle stirbt. In präklinischen Mausmodellen hat der Hemmstoff bereits Wirkung gezeigt. Aber bis zur Marktreife werden, wie bei der Medikamentenentwicklung leider üblich, vermutlich noch Jahre vergehen.

Wichtige Projekte des BMBF zur Targetvalidierung gestartet

Auch das Bundesforschungsministerium ist stark engagiert in dem Ziel, neue Targets für Volkskrankheiten zu bestimmen. Im Rahmen einer neuen Förderrichtlinie werden aktuell „Projekte gefördert, um neue Targets zu validieren, welche der späteren Entwicklung von neuen innovativen Wirkstoffen dienen. Der besondere Fokus der Förderrichtlinie besteht darin, dass die beteiligten Hochschulen und Forschungseinrichtungen im Rahmen der Projekte industrielle Standards implementieren und dadurch die Anschlussfähigkeit der Ergebnisse erhöhen“, ist auf der Informationsseite des BMBF dazu nachzulesen. (Quelle: https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/targetvalidierung-fur-die-pharmazeutische-wirkstoffentwicklung-7366.php)

Durch die Fördermaßnahme soll eine bessere Versorgung der Gesellschaft mit dringend benötigten Medikamenten sichergestellt werden. Bei den geförderten Einzelprojekten geht es einmal um die „Targetvalidierung und Entwicklung von Validierungssonden für Payload-konjugierte Wirkstoffe gegen Eierstockkrebs (PayLOAD)“. Eierstockkrebs steht in der Liste der tödlichsten Krebserkrankungen bei Frauen weltweit an fünfter Stelle. Die Überlebensrate nach fünf Jahren beträgt nur 25 Prozent. Eine neuartige, zielgerichtete Behandlung dieser Patientengruppe arbeitet mit einem radioaktiv markierten Wirkstoff. Dabei wird der Tumor spezifisch durch ein radioaktives Molekül gebunden, das den Tumor durch seine radioaktive Strahlung bekämpfen soll. Beim zweiten Projekt geht es um die Validierung eines therapeutisches Targets zur Behandlung von Schlaganfällen, die zu den häufigsten Erkrankungen in Deutschland zählen. Vor allem der neuronale Zelltod trägt zu Gehirnschäden bei Schlaganfällen bei. Das Projekt will spezielle zelltodvermittelnde Proteine als Target zur Behandlung dieser akuten Neurodegeneration nach Schlaganfällen untersuchen. Die Hemmung dieser Proteine kann Nervenzellen vor dem Zelltod schützen. Auf Basis der im Projekt erzielten Ergebnisse soll langfristig die Behandlung von Schlaganfallpatienten verbessert werden.

Dr. Jörg Wetterau

Labor für Kommunikation, Linsengericht

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Bildnachweis Titelbild: Peter Schreiber Media/stock.adobe.com

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