Seltene Erkrankungen –
alte Hürden und neue Möglichkeiten

 

Folge 11: Aktuelle Chemie 2019 – Medizin und Gesundheit

Sie sind kaum erforscht, wenig bekannt und schwer therapierbar, dafür immer komplex, meist unerkannt und häufig tödlich: die Seltenen Erkrankungen. Lange haben sie von Medizinern und Medikamentenentwicklern wenig Aufmerksamkeit erhalten. Aufwendige Grundlagenforschung  und kostenintensive Therapieentwicklungen stehen geringen Fallzahlen oder gar Einzelschicksalen gegenüber. In den letzten Jahren hat das Thema in Deutschland und EU-weit frischen Schwung bekommen; moderne Genanalyse-Methoden, aktuelle Gesetze und verbesserte finanzielle Rahmenbedingungen geben den „Waisen des Gesundheitssystems“ neue Möglichkeiten.

Seltene Erkrankungen, häufige Hindernisse

Als selten gilt eine Erkrankung in der EU, wenn von 10.000 Menschen nicht mehr als fünf betroffen sind. Klingt erst einmal gar nicht so viel, doch leiden in Deutschland rund vier Millionen Menschen an einer von fast 8.000 der unter diese Definition fallenden Erkrankungen. EU-weit geht man von 30 Millionen aus, was ca. jedem 20. Bürger entspricht. So selten sind „Die Seltenen“ also gar nicht; doch gibt es von jeder Krankheit im Einzelnen nur sehr wenige Fälle, die meisten Betroffenen sind Kinder. Seltene Leiden gibt es in den unterschiedlichsten Krankheitsgebieten: Formen von Krebs, Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, Stoffwechsel-, Nerven, Infektions- und Autoimmunkrankheiten – fast 8.000 Krankheiten gelten als selten. Jährlich werden neue entdeckt.

Aus diesem Grund ist die Erforschung und Behandlung Seltener Erkrankungen (SE) so schwierig: Die geringe Zahl an und die überregionale Verteilung von Patienten und entsprechenden Experten erschwert sowohl die Therapie als auch das Finden von Studienteilnehmern. „Auch dauert es oft Jahre, bis die Betroffenen die richtige Diagnose erhalten“, berichtet Dr. Christine Mundlos, stellvertretende Geschäftsführerin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V. „Die Diagnose ist ein wichtiger Meilenstein, doch daraus ergeben sich weitere Fragen: Wo gibt es in Deutschland Experten, die sich mit der Erkrankung auskennen und an die ich mich wenden kann? Gibt es überhaupt Therapiemöglichkeiten? Wie komme ich da ran? Wer trägt die Kosten? Damit fühlen sich die Betroffenen und ihre Familien oft allein gelassen. Es gibt in Deutschland keinen strukturierten oder geleiteten Patientenpfad; deshalb hängt immer noch sehr viel von dem Glück ab, im richtigen Moment an den richtigen medizinischen Experten zu kommen.“

Unterstützung auf Bundesebene: Aktionsplan und Aktionsbündnis

Um die Versorgung von Menschen mit SE zu verbessern, empfahl der Rat der Europäischen Union 2009 den Mitgliedsstaaten einen Gesamtplan für die Versorgung der Betroffenen zu erarbeiten, der u.a. die Bildung von medizinischen Zentren, die auf SE spezialisiert sind, vorsieht. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hatte selbst vorab eine Studie zur Situation der Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland in Auftrag gegeben und rief 2010 das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) ins Leben. Unter der Leitung des BMG zusammen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der ACHSE e.V. erarbeiten 28 Akteure des Gesundheitssystems gemeinsam Lösungen. NAMSE hat einen Aktionsplan mit 52 Maßnahmenvorschlägen entwickelt und im August 2013 vorgestellt. 

„Der Aktionsplan verfolgt zahlreiche gute Ansätze, doch ist der Prozess an vielen Stellen ins Stocken gekommen“, berichtet Dr. Mundlos. Ein Zwischenbericht von NAMSE von 2017 zeigt die Fortschritte und Defizite auf. Beispielsweise hapert es noch an der Zertifizierung und  finanziellen Ausstattung der 32 bisher selbst ernannten Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE) in Deutschland.

Wissen über Ländergrenzen hinweg bündeln – ZSE und ERN

Seit 2009 haben sich, wie von der EU empfohlen, deutschlandweit Zentren für Seltene Erkrankungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten konstituiert. Die Anzahl der Zentren steigt stetig; inzwischen gibt es 32, die meisten angesiedelt an Universitätsklinika. Unklar ist jedoch bis heute deren Evaluierung, Zertifizierung und Finanzierung. Auf europäischer Ebene ist man da schon weiter: Zu 24 Krankheitsgruppen wurden Europäische Referenznetzwerke (ERN) eingerichtet; unter jedem ERN arbeiten spezialisierte – und von der EU evaluierte sowie zertifizierte – Expertisezentren unterschiedlicher Länder zusammen. Über 900 Abteilungen aus mehr als 300 Krankenhäusern von 26 Mitgliedstaaten teilen ihr Wissen und ihre Erfahrungen, darunter 125 deutsche Spezialzentren.

„Von der interdisziplinären internationalen Zusammenarbeit profitieren Zentren, Ärzte und Patienten gleichermaßen“, berichtet Dr. Holm Graeßner, Geschäftsführer des Zentrums für Seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Tübingen und Koordinator des ERN für seltene neurologische Erkrankungen. „Nicht nur werden EU-weite Versorgungsstandards und evaluierte Expertisezentren geschaffen. Im Rahmen der ERN finden zu besonders komplexen Patienten auch standortübergreifende virtuelle Fallkonferenzen statt. Damit können zum Beispiel komplexe diagnostische Fragestellungen mithilfe von kollektiver Intelligenz beantwortet werden.“ Darüber hinaus bieten die ERN Fort- und Weiterbildungsprogramme auf dem Gebiet seltener Erkrankungen. „Damit adressieren die ERN ein Hauptproblem der Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen: den Mangel an entsprechenden Experten“, so Graeßner. Die Finanzierung der Zentren und der Experten wiederum liegt in der Hand der einzelnen Länder; genauso wie die Integration der ERN in das deutsche Gesundheitssystem. Die Verhandlungen laufen.

Förderungen und neue Anreize 

Bis heute ist die Finanzierung aufwendiger Forschung und Entwicklung zu SE ein Knackpunkt. Doch gibt es von verschiedenen Seiten Bemühungen: Zum einen finanzieren beispielsweise private Stiftungen wie die Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen Forschung auf dem Gebiet. Zum anderen fördert auch die Bundesregierung im Rahmen einer Nationalen Förderung mit verschiedenen Programmen, wie z.B. seit 2018 der Richtlinie zur Förderung translationsorientierter Verbundvorhaben im Bereich der Seltenen Erkrankungen, die Erforschung von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen. Im Förderzeitraum von 2008 bis 2022 sind bis zu 101 Mio. Euro Fördersumme angesetzt. Auch in anderen Programmen werden Seltene Erkrankungen berücksichtigt. Auf EU-Ebene sind im Rahmen der E-Rare-Programme Förderungen von Grundlagenforschung im Bereich SE möglich. 

164 neue Medikamente seit der Jahrtausendwende

Ein wichtiger Meilenstein für die Medikamentenentwicklung wurden mit der sogenannten „Orphan-Drug-Verordnung“ der EU aus dem Jahr 2000 gesetzt: Unternehmen, die ein neues Medikament für SE entwickeln, erhalten Förderungen auf dem Weg zur Zulassung sowie eine verbreiterte Marktexklusivität (unabhängig vom Patentschutz) für bis zu zehn Jahre nach der Zulassung. Die Verordnung erzielte ihre Wirkung: Seit ihrem Erlass wurden 164 Arzneimittel für SE in der EU zugelassen, die auf 131 Krankheiten abzielen. Rund ein Drittel der Medikamente, die in den letzten fünf Jahren auf den Markt kamen, waren Orphan Drugs. Derzeit (Stand: April 2019) werden laut dem Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) noch weitere rund 1.900 Arzneimitteltherapien entwickelt, die ebenfalls den Orphan-Drug-Status haben. Wie immer bei Medikamentenprojekten wird jedoch nur ein Teil tatsächlich die Erprobung bestehen und zugelassen werden.

Genomforschung ermöglicht neue Ansätze

Doch nicht nur die Orphan-Drug-Verordnung hat in den vergangenen Jahren die Erforschung SE beflügelt. „Auch die Entschlüsselung des Humangenoms ab der Jahrtausendwende hat dazu beigetragen“, berichtet Dr. Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung/Entwicklung/Innovation des vfa. Über 80 Prozent der Seltenen Erkrankungen haben genetische Ursachen. „Die Entwicklung der Genomforschung hat daher eine völlig neue Sicht auf zahlreiche Seltene Erkrankungen gebracht und sorgt seitdem für immer neue Diagnosemethoden und Therapieansätze“, so Throm. Angesichts der extrem unterschiedlichen Krankheitsbilder 8.000 Seltener Erkrankungen stehen wir jedoch noch ganz am Anfang einer langen Entwicklungsreise: Es gibt seltene Krebserkrankungen, seltene angeborene Stoffwechselkrankheiten, seltene Autoimmunkrankheiten, und viele weitere, von denen bisher nur ein Bruchteil erforscht und nur wenige behandelbar sind. Der Bedarf an Grundlagenforschung und Entwicklungsarbeit ist also unvermindert hoch.“

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